Mord in Schattendorf

Als sich vor 90 Jahren der Kampf gegen den Faschismus erstmals zuspitzte, hätte die Arbeiterbewegung noch das Schlimmste verhindern können.

Mit schnellem Schritt und gut gelaunt marschieren die 112 Schutzbündler am Nachmittag des 30. 1. 1927 die Hauptstraße entlang durch den kleinen burgenländischen Ort. Am Straßenrand liegen noch ein paar Zentimeter Schnee, die unasphaltierte Straße ist nach Tagen der Kälte pickelhart gefroren, hie und da zerbricht einer der schweren Schuhe eine der vereisten Lacken, die sich in den Schlaglöchern gebildet haben. Die ansehnliche Gruppe mischte zuvor beim Bahnhof die von woanders angereisten Mitglieder der rechten Frontkämpfervereinigung, die im Gasthof Tscharmann in Schattendorf an einer Kundgebung teilnehmen wollten, ordentlich auf und schlug sie in die Flucht. Ursprünglich wollten die Roten eigentlich nur im Gasthof Moser eine Gegenveranstaltung abhalten und so auf die Provokation der faschistisch gesinnten Frontkämpfer reagieren. Als Thomas Preschitz, der Bezirksleiter des Republikanischen Schutzbunds, aber erfuhr, dass die Rechten ihre Veranstaltung sprengen wollten, fackelte er nicht lange. Mit Fahrradkurieren wurden die Genossen in den umliegenden Orten informiert und nach Schattendorf gerufen. Mit der zögerlichen Haltung der burgenländischen Leitung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, die überhaupt erst ein Jahr zuvor der Gründung von Schutzbund-Ortsgruppen zugestimmt hatte, war er schon lange nicht einverstanden.
Die „arischen“ Frontkämpfer, die hier im Grenzgebiet immer frecher auftraten, hatten sich ohnedies schon längst eine Tracht Prügel verdient. Die Arbeiter hatten nicht umsonst 1921 mit der Waffe in der Hand dafür gekämpft, dass das Burgenland Teil von Österreich werden konnte. Die Frontkämpfer hingegen strebten danach, das Gebiet wieder an Ungarn zurückzugeben, wo das autoritäre Regime von Miklós Horthy die Arbeiterbewegung und nationale Minderheiten unterdrückte. In Ödenburg (Sopron) sollen sie sogar ein massives Waffenlager gehabt haben, um im Fall politischer Unruhen in Österreich ihre irredentistischen Ziele umzusetzen. Im Land selbst stellten sie bei Veranstaltungen bürgerlicher Parteien immer öfter den Saalschutz und provozierten die Arbeiter, wo es nur ging. Die Tscharmanns gehörten in der roten Hochburg Schattendorf der kleinen Frontkämpfervereinigung an. Sie hätten am liebsten auch den Grenzbalken zu Ungarn weg, damit sie ihre Geschäftsbeziehungen ungehindert betreiben konnten.

Schon am Vormittag drang Preschitz mit ein paar seiner Genossen in ihren Hof ein und stänkerte. Als der Triumphzug der Schutzbündler, dem sich dutzende Rote, auch Frauen und Kinder, angeschlossen haben, vor dem Gasthof Halt macht und Steine auf das Haus fliegen, reicht es den jungen Männern der Wirtsfamilie, die sich ein Arsenal an Jagdgewehren eingerichtet haben. Schüsse fallen, die Menge läuft auseinander, die Menschen suchen Deckung, doch der achtjährige Josef sinkt blutüberströmt zu Boden. Herzschuss. Der Schutzbündler Matthias Csarmits liegt ebenfalls tot auf der Straße.

Wie ein Lauffeuer breitet sich die Nachricht von den Vorfällen in Schattendorf aus. Am nächsten Morgen werden spontan in unzähligen Fabriken die Maschinen abgedreht. In Neufeld kommen 6.000 zu einer Protestkundgebung der Partei, an den Begräbnissen der beiden Opfer nehmen über 10.000 teil. Unter den ArbeiterInnen brodelt es. Wieder hat es welche von ihnen getroffen. Die Zahl der politischen Morde an Roten reißt nicht ab. Es ist Zeit, den Rechten endlich entschlossen und konsequent entgegenzutreten. Die burgenländische Parteiführung versucht aber beruhigend auf die Basis einzuwirken. Im Landtag stimmt sie mit den anderen Parteien für eine Resolution, die dazu mahnt, politische Kämpfe rein mit geistigen Waffen zu führen und gegen „hochverräterische Elemente“ (unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit) mit aller Strenge vorzugehen.

Die Parteiführung in Wien reagiert mit wortgewaltigen Anklagen. Doch was soll konkret getan werden? Ernsthafte Massenmobilisierungen waren aus der Sicht der Parteispitzen ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Die Sozialdemokratie, so Otto Bauer, dürfe nur mit „demokratischen Mitteln“ an die Macht kommen, auch wenn sie sich bewusst sein müsse, dass die Bürgerlichen dabei nicht einfach nur zuschauen würden.

Im Jahr zuvor diskutierte man auf dem Parteitag in Linz schon, wie man auf die Aggression der Bürgerlichen reagieren solle. Erwiesene Wehrhaftigkeit und eine starke, einheitliche Organisation müssten die Antworten der Arbeiterbewegung zur Eindämmung der Reaktion sein, meinte Bauer. Nur für den Fall eines faschistischen oder monarchistischen Putsches dürfe die gewaltsame Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“ eine Option sein. Dieser rein defensive Charakter wurde aber von vielen in der Bewegung kritisch hinterfragt. Warum wolle man nicht, wie in früheren Programmen formuliert, „mit allen zweckdienlichen und dem natürlichen Rechtsgefühl des Volkes entsprechenden Mitteln“ den Kampf führen? Bauers einzige Antwort war die Warnung vor einem schrecklichen Blutvergießen und Bürgerkrieg.

Daraus resultierte in allen heiklen Situationen eine abwartende, passive Taktik der Sozialdemokratie – natürlich stets mit revolutionärer Rhetorik vorgetragen. Ein Beispiel dafür lieferte die Zeitung der Sozialistischen Arbeiter-Jugend, im März 1927: „Wir müssen wehrhaft werden! … Je stärker der Schutzbund, je stärker die Jugendordnerformationen, umso eher werden sich’s Frontkämpfer und Hakenkreuzler überlegen, jemals wieder auf Arbeiter zu schießen. …Wir müssen aus unserer Jugendorganisation die große, revolutionäre Massenorganisation des österreichischen Jungproletariats schmieden… Mehr Wehrhaftigkeit! Mehr Bildungsarbeit! Mehr Werbekraft! Das fordert die Schattendorfer Tat von der österreichischen Arbeiterjugend.“
Die Organisation numerisch stärken, bilden und wehrhaft machen, sei das Gebot der Stunde. In der konkreten Auseinandersetzung mit den Faschisten auf der Straße versuchte die Partei die Massen aber stets zu beruhigen statt sich auf ihre Seite zu stellen und sie in Richtung Revolution zu führen. So auch im Juli 1927, als Hunderttausende spontan vor den Justizpalast ziehen, gegen den Freispruch der Mörder von Schattendorf demonstrieren und zur revolutionären Tat bereit sind. Dies war der entscheidende Wendepunkt der Ersten Republik, danach war der Weg zur Zerschlagung der Sozialdemokratie und zum Sieg des Faschismus geebnet.

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